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DIE HÖFLICHKEITSFALLE – WIE FREUNDLICHKEIT DYSFUNKTION VERDECKT

Warum wir Nett sein mit Echtheit verwechseln – und wie ehrliche Führung heilt, was Höflichkeit versteckt

Es gibt eine Situation, die ich häufiger erlebt habe, als ich zählen kann:
Jemand begrüßt mich mit „Hey, wie geht’s?“ – und bevor ich überhaupt antworten kann, redet die Person schon weiter – meist über mich hinweg.

Ich weiß, es ist nicht böse gemeint.
Es ist eine Geste der Höflichkeit, eine kulturelle Routine.
Und doch stört es mich jedes Mal. Denn Worte haben Bedeutung – genau wie der Mensch, an den sie gerichtet sind.

Was mich eigentlich stört, ist nicht die Floskel selbst, sondern das, was sie offenbart:
die schleichende Entwertung von Aufrichtigkeit im Namen der Höflichkeit.
Eine subtile Dysfunktion, getarnt als gutes Benehmen – während wir uns in einem feinen Netz gegenseitiger Rücksicht verfangen, das kaum noch Luft für Echtheit lässt.


Der Fassade der Höflichkeit

Wir leben in einer Kultur, die Nettigkeit höher schätzt als Echtheit.
Wir verwechseln Gefälligkeit mit Erfolg, Diplomatie mit Anstand und Harmonie mit Gesundheit.

Gerade in der Arbeitswelt wird „Professionalität“ oft mit Vermeidung gleichgesetzt:
Mach keine Wellen, zeig keine Emotionen, sag nichts, was Unbehagen auslösen könnte.
So verwechseln wir Unbehagen mit Gefahr und Schweigen mit Reife.

Doch dieses dauerhafte Streben nach Harmonie hat seinen Preis.
Wenn alle damit beschäftigt sind, den Frieden zu wahren, sagt niemand mehr die Wahrheit.
Und unter der scheinbar ruhigen Oberfläche wachsen Frustration, Müdigkeit und stiller Zynismus.

Höflichkeit, übertrieben eingesetzt, wird zur Tarnung.
Sie verdeckt Konflikte, unterdrückt Unterschiede und belohnt die Illusion von Einigkeit statt echter Verbindung.


Wenn Freundlichkeit zur Show wird

Natürlich hat Höflichkeit ihren Platz – und den sollte sie auch behalten.
Respektvolle Umgangsformen ermöglichen es, dass Menschen miteinander arbeiten und leben können, ohne Chaos zu erzeugen.

Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Freundlichkeit und Fassade.
Zwischen echtem Respekt und strategischer Nettigkeit.

Du kennst sicher diese Art von Meeting:
Alle nicken zustimmend, die Stimmen bleiben sanft, die Lächeln unbewegt.
Und danach – auf dem Flur oder in privaten Nachrichten – beginnt das eigentliche Gespräch: ungefiltert, genervt, lebendig und Ausdruck der wahren Dynamik.

Wir haben Organisationen geschaffen, in denen Klatsch und Tratsch sicherer ist als Widerspruch.
In denen emotionale Ehrlichkeit nur hinter verschlossenen Türen stattfindet.

Wenn Freundlichkeit zur Performance wird, gilt Wahrheit plötzlich als unhöflich.


Die Angst hinter der Höflichkeit

Im Kern der ‚Höflichkeitsfalle‘ liegt meist Angst.
Angst vor Ablehnung, vor Konflikten, davor, als „schwierig“ oder „unprofessionell“ zu gelten.
Also formulieren wir weicher, dämpfen unsere Meinung, entschuldigen unsere Präsenz.
Wir sagen weniger, als wir denken – und hoffen, dass Frieden entsteht, wenn wir Reibung vermeiden.

Wir tun das in Familien, in Teams – und in Führung.
Wir wählen Zustimmung statt Authentizität, weil es bequemer, sicherer, berechenbarer erscheint.

Das Bedürfnis, allen zu gefallen, hat nichts mit Empathie zu tun.
Es ist oft nur die Angst davor, sichtbar zu werden, mit einer Haltung, die anecken könnte, mit einer Wahrheit, die unbequem sein könnte, mit einer Stimme, die etwas bewegen würde.

Doch das Bedürfnis, allen zu gefallen, verbirgt oft die Angst, wirklich zu führen.
Und je mehr wir Harmonie erzwingen, desto weniger Raum bleibt für Ehrlichkeit.

Echte psychologische Sicherheit entsteht nicht, wenn alle sich einig sind, sondern wenn es erlaubt ist, ehrlich zu sein.
Wenn Menschen den Mut finden, etwas auszusprechen, und andere die Größe, es auszuhalten.


Wie Sprache zur Vermeidung wird

Ich beobachte seit Jahrzehnten, wie sich in vielen Organisationen die gleiche Dynamik wiederholt:
Man redet viel – aber sagt wenig bis gar nichts.

Wir reden in Euphemismen, um der Schwere von Ehrlichkeit und Klarheit zu entkommen.

„Vielleicht sollten wir das überdenken“ statt „Das funktioniert nicht.“
„Alles gut“ statt „Ich bin überfordert.“
„Lass uns später darüber reden“ statt „Wir sind uns uneinig, und das ist okay.“

In solchen Momenten wird Sprache zum Schutzschild – zur Verteidigung gegen Verletzlichkeit, elegant, aber wirkungslos.

Doch wenn Führungskräfte Worte ohne Präsenz benutzen, verlieren ihre Glaubwürdigkeit und Sprache verliert ihre Bedeutung.
Menschen hören dann nicht nur auf, den Worten zu glauben, sondern auch der Person, die sie spricht.

Führung beginnt in der Sprache.
Jedes Wort sendet ein Signal:
Meinen wir, was wir sagen – oder wollen wir nur, dass es schön harmonisch bleibt?

Worte formen Wirklichkeit.
Und wer Verantwortung trägt, trägt sie zuerst in der Sprache.


Der Preis künstlicher Harmonie

Wenn Höflichkeit Ehrlichkeit ersetzt, zerfällt Vertrauen still und leise.
Teams verlieren die produktive Spannung, aus der Kreativität und neue Erkenntnisse und Innovationen entstehen.

In solchen Kulturen ziehen sich Menschen nicht zurück, weil sie widersprechen,
sondern weil sie das Gefühl haben, dass ihre Stimme ohnehin nichts verändert.
Sie funktionieren, sie liefern, sie passen sich an –
bis das innere Feuer erlischt.

Führungskräfte, die Nettigkeit über Klarheit stellen, verwechseln Gehorsam mit Engagement.
Sie halten Stille für Zustimmung und verkennen, dass echte Loyalität nur auf Vertrauen wachsen kann.

Doch die besten Führungskräfte wissen:
Wahrheit, nicht künstliche Harmonie, schafft Stabilität.
Respektvoller Widerspruch stärkt ein Team – er spaltet es nicht.

Ehrlichkeit ist nicht der Feind von Zugehörigkeit.
Sie ist ihr Fundament.


Der Mut zur Klarheit

Authentische Führung bedeutet nicht, immer recht zu haben,
sondern den Mut zu haben, echt zu sein.

Klarheit kann kurzfristig unbequem sein – Unklarheit ist es langfristig immer.
Echte Freundlichkeit schließt Ehrlichkeit ein.

Empathie ohne Ehrlichkeit ist Manipulation.
Ehrlichkeit ohne Empathie ist Grausamkeit.
Gute Führung braucht beides.

Der Mut zur Klarheit ist eine leise Form von Stärke – eine tägliche Übung in Integrität.
Es bedeutet, das auszusprechen, was man sieht, auch wenn es nicht jedem gefällt.
Und es so zu tun, dass Menschen sich trotz der Wahrheit gesehen fühlen.

Diese Balance – zwischen Wahrheit und Mitgefühl – ist das Herzstück reifer Führung.


Echte Gespräche zurückgewinnen

Wir müssen und dürfen Höflichkeit nicht aufgeben.
Wir müssen sie nur wieder mit Aufrichtigkeit verbinden und verankern.

Frage, weil du es wirklich Interesse hast– und sei bereit, eine ehrliche Antwort zu hören.
Höre auch auf das, was zwischen den Worten mitschwingt, und hake nach, wenn etwas unklar ist.
Und wenn Unbehagen entsteht, atme – vielleicht will es dir etwas zeigen.

Höflichkeit sollte Würde schützen, nicht Wahrheit verzerren.
Ein gutes Gespräch fühlt sich nicht immer gut an –
aber es hinterlässt Klarheit, Leichtigkeit und Verbindung.


Führung jenseits der Nettigkeit

Wenn du das ernst nimmst, verändert sich deine Art zu führen.
Du hörst auf, Wahrnehmungen zu managen, und beginnst, Präsenz zu kultivieren.
Deine Beziehungen – beruflich wie privat – werden ehrlicher, kreativer, lebendiger und vor allem tiefer.

Menschen spüren, ob du meinst, was du sagst.
Sie vertrauen dir, nicht weil du immer recht hast,
sondern weil du echt bist.

Gute Führung bedeutet nicht, allen zu gefallen.
Sondern Räume zu schaffen, in denen Wahrheit gesagt werden darf – und trotzdem sicher bleibt.
Wo Unterschiede kein Problem sind, sondern eine Einladung. Wo Unterschiede nicht trennen, sondern inspirieren.

Am Ende geht es nicht darum, höflich zu sein.
Sondern darum, wirklich präsent zu sein.


Zum Relektieren

Wo in deinem Leben verwechselst du Nettsein mit Echtheit?
Und was würde sich verändern, wenn du Höflichkeit durch Präsenz ersetzt?